loslassen
Die wohl schwierigste Lektion in meinem Leben war und ist LOSLASSEN. Ich hänge an Menschen, ich hänge an Dingen. Ich hänge sogar an meinen zwei Katzen. Für mich sind Menschen nicht ersetzbar. Es gibt einen Grund, weshalb ich jemanden mag, mich verliebt habe, mich zu jemanden hinzugezogen fühle. Meine Lieblingsmenschen stehen mir nahe. Ich fühle mich verbunden, geborgen, verstanden, akzeptiert, respektiert und wertgeschätzt. So jemanden kann ich nicht ersetzen und ich möchte es auch nicht.
Nun ist das Leben nun mal fies und hart und manchmal nicht fair. Es entreißt uns Menschen. Durch Trennung, durch Tod. Die Endlichkeit des Lebens ist mit der Geburt bestimmt – eines Tages wird der Mensch sterben. Und es gibt keinen Zeitpunkt im Leben, um sich auf diesen Zeitpunkt vorzubereiten. Selbst wenn dieser Mensch schon lange krank war und der Tod für ihn eine Erlösung. Er ist weg. Für immer. Dafür gibt es keine Worte, nur Leere. Stille. Traurigkeit. Sehnsucht. Schmerz.
Für manche ist der Tod, die Endlichkeit des Lebens beflügelnd – das mag seltsam klingen – aber wenn das Leben so begrenzt und kurz ist, dann möchte man doch das Beste draus machen. Für andere ist diese Begrenztheit an Lebenszeit eine Befangenheit – wofür soll ich mich anstrengen, wenn das Leben jederzeit vorbei sein kann?
Ich springe je nach Tagesverfassung zwischen diesen beiden extremen Gedankengängen hin und her – an guten Tagen versuche ich das Leben leicht und unbeschwert zu betrachten, die beste Version meines Selbst und für meine Mitmenschen da zu sein. An schlechten Tagen sehe ich keinen Sinn in meinen Anstrengungen und meinem Bemühen, ein guter Mensch zu sein, Transzendenz anzustreben, oder den Sinn meines Lebens zu finden. Was ist schon der „purpose of life“? Vielleicht ist mein Leben darin bestimmt, eine Arbeitsdrohne zu sein und gelegentlich meine Mitmenschen zu bespaßen und für meine liebsten Menschen da zu sein.
Vielleicht schafft die Frage nach dem Sinn des Lebens so viel Druck, dass ich im Hinterherjagen nach diesem Lebenssinn nur Stress erfahre und nie an dem Punkt einer Zufriedenheit im Hier und Jetzt ankommen kann, weil ein einfaches Sein ohne große Erfolge im Leben nie genug sein wird?
Ich schweife ab, wobei der Sinn des Lebens und Loslassen ineinander verwoben sein könnten. Wir Menschen möchten im Leben eines anderen Menschen, den wir in unser Herz geschlossen haben, eine Rolle spielen. Wir möchten von Bedeutung sein. Und gewisse Menschen sind uns von Bedeutung. Eines der vier psychologischen Grundbedürfnisse – ich beziehe mich auf die großartige Psychotherapeutin und Bestsellerautorin Stefanie Stahl – ist: der Wunsch nach Bindung und Zugehörigkeit. Das beinhaltet nun diverse soziale Zugehörigkeiten, sei es die Bindung zur Familie, zu unserem Partner, zu unserem Kind, zu unseren Freunden oder Kollegen oder anderen Bezugspersonen.
Bricht nun diese Bindung ab, werden wir in unserem Grundbedürfnis erschüttert. Die Gründe können vielseitig sein, aber dennoch setzt uns dieser Abbruch einer Verbindung zu, hinterlässt Fragen, Leere, Schmerz, Angst, Wut, Verstörung. Wie sollen wir ein Leben ohne diese Person schaffen? Wie kann diese entstanden Leere je wieder gut werden? Warum werden wir mit diesem Verlust in unserem Leben bestraft? Was habe ich falsch gemacht? Weshalb muss das mir passieren? Warum ist das Leben so ungerecht? Wenn es einen Gott gibt, wieso lässt er das zu? Was möchte mir das Universum damit sagen? Bin ich so falsch, dass ich das erleben muss? Was hätte ich tun können, damit dieser Mensch bei mir bleibt? Ich würde nochmal alles dafür tun, damit ich wieder mit meinem geliebten Menschen sein kann!
Wir verhandeln, wir streiten, wir diskutieren, wir sind wütend, wir sind traurig, wir durchleben alle fünf Phasen der Trauer von Kübler-Ross von vorne bis hinten und nochmal zurück. Das Leben ist nicht mehr so, wie es mal war. Und ich wage zu behaupten, dass Liebeskummer, der nicht mit dem Tod eines geliebten Menschen gleichzusetzen ist, ähnliche Ausmaße in der Trauer eines Verlustes annimmt. Die körperlichen Symptome bei einem gebrochenen Herzen – dem Broken-Heart-Syndrom – sind nicht umsonst zu unterschätzen!
Loslassen. Von jemanden, von etwas – wie soll das funktionieren? Warum tun wir Menschen uns schwer, jemanden (oder etwas) loszulassen? Diese Frage ist auch für mich nur schwer zu beantworten. Wir empfinden für jemanden Liebe, vielleicht sogar bedingungslose Liebe, wie die Liebe zu einem Kind. Oder einem Partner. Oder einem Elternteil. Oder einem Mentor. Eine Liebe, die so stark und überwältigend und einzigartig ist, dass Loslassen nicht möglich ist. Denn das würde bedeuten, dass wir diesen Menschen vielleicht aufgeben oder vergessen müssen?
„Das Leben geht nicht einfach weiter.” (Naomi Watts alias Christina Peck in 21 Gramm)
21 Gramm, ein Film, in dem tragische Ereignisse passieren und miteinander verwoben werden, ist mir selbst 20 Jahre später noch in Erinnerung. Besonders ist mir das Schicksal von Christina Peck, großartig dargestellt von Naomi Watts, im Gedächtnis. Nach einem tragischen Unfall, in dem ihre beiden Töchter und ihr Lebenspartner sterben, verfällt die Protagonistin einer schweren Depression, Alkohol- und Drogensucht. Ihr Vater versucht sie zu trösten und berichtet, wie es ihm nach dem Tod seiner Frau ergangen ist. "Das Leben geht weiter" ist sein Conclusio, selbst nach einem tragischen Verlust. Christina widerspricht ihrem Vater: "(...) das ist nicht wahr. Das Leben geht nicht einfach weiter."
Ich gebe Christina recht - diese gut gemeinte, fast floskelhafte Aussage, das Leben gehe einfach weiter (nach dem Verlust eines geliebten Menschen) ist nicht stimmig. Manchmal steht das Leben still. Manchmal ist der Schmerz zu groß, um einfach weiter zu machen. Das Leben geht nicht einfach weiter. Und das muss es auch nicht. Es fehlt jemand, es ist eine Lücke entstanden. Eine Leere, die empfunden wird, die schmerzt, die nicht gefüllt werden kann. Es gibt keinen Ersatz und keine Ablenkung, die diesen einen Menschen wieder zurück bringen kann. Und das tut weh. Das darf weh tun. Das darf so lange betrauert werden, wie es sein muss.
Du lässt dann los, wenn du es für dich als richtig empfindest.
Du lässt dann los, wenn es für dich Sinn macht.
Du lässt dann los, wenn du es möchtest.
Du lässt dann los, wenn du für dich Frieden finden möchtest.
Du lässt dann los, wenn du für dich einen Sinn im Weiterleben gefunden hast.
Du lässt dann los, wenn du für dich Antworten gefunden hast.
Du lässt dann los, wenn du erkannt hast, dass du es wert bist.
Du lässt dann los, wenn du vergeben möchtest.
Du lässt dann los, wenn du bereit bist.
Du lässt dann los, wenn du deinem liebsten Menschen die Ehre erweisen möchtest.
Du lässt dann los, wenn du dir selbst nicht mehr im Weg stehst.
Du lässt dann los, wenn es genug ist.
Du lässt dann los, wenn du dich selbst lieben lernst.
Los-lassen. Von jemanden los-lassen. Das heißt nicht vergessen. Nicht verzeihen. Loslassen ist eine Möglichkeit, trotz dieser Lücke einen Sinn und eine Freude im Dasein zu finden. Und auch mit ihr zu leben. Ohne, dass es zu sehr weh tut.
An alle Liebenden, Verlassenen, Trauernden, Verzweifelnden – Loslassen ist ein Prozess. Ihr macht alles richtig!
„Da dir die Fähigkeit, zu lieben, geblieben ist Und die Kraft zu vergeben ein Bestandteil deines Lebens ist Wurde ich erweckt, und was tief in mir schlief Führt nun feder, und schreibt dir diesen Liebesbrief.” (Liebesbrief von Thomas D)
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