Endlichkeit und lieblingsmenschen
Liebe Leserinnen, liebe Leser!
Es ist ruhig geworden um mich. Und diesen Blog. Es ist viel passiert. 2024 hit me hard! Ich könnte diesen sehr persönlichen Beitrag auch gut mit den Worten beginnen: „Liebes Tagebuch...“. Es fällt mir nicht leicht über das vergangene Jahr zu sprechen. Es ist, als würde ich die Büchse der Pandora wieder öffnen und ich müsste all den Schmerz nochmal spüren, der mich in diesem Jahr recht unsanft umgeworfen hat.
Ja, auch als Lebensberaterin können einen Schicksalsschläge ereilen, mit denen man so schnell nicht umgehen kann. Sämtliche Coping-Mechanismen, die jahrelang in der Ausbildung und darüber hinaus erlernt wurden, haben nicht mehr funktioniert.
Was ist passiert? Es begann alles damit, als mein Vater Anfang des Jahres 2024 gestürzt ist und von einem Tag auf den anderen zum Pflegefall wurde. Schnell fortschreitende Demenz und Bettlägerigkeit machten aus meinem Lieblingsmenschen und Helden einen schnell alternden Mann, dessen Lebenswille mit jedem Tag zu schwinden schien. Das war hart mit anzusehen. Zwei Wochen nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus meines Vaters – und nachdem meine Mutter und ich in kürzester Zeit eine 24-Stunden-Pflege aufgetrieben hatten – stürzte auch noch meine Mutter. Unsere - ausschließlich ukrainisch sprechende Pflegekraft - holte mich per Telefon zu Hilfe. Ich konnte kein Wort verstehen, aber es hörte sich nach einem Notfall an. Meine Mutter war durch die Strapazen und Aufregungen der letzten Wochen so entkräftet, dass sie kollabierte und mit dem Gesicht gegen die Wand geknallt war. Der Anblick war schockierend. Ein Blutbad neben dem Bett, meine Mutter im Bett liegend, blass, blutüberströmt und völlig teilnahmslos, daneben unsere Pflegekraft, den Puls ihrer neuen Patientin messend. Also (wieder!) die Rettung rufen. Das war Anfang Februar. Mit diesem zweiten schrecklichen Ereignis, das mir das Thema Endlichkeit des Lebens, nochmal urplötzlich näher bringen sollte, merkte ich, dass ich an das Ende meiner Kapazitäten kam. Eine unfassbare Angst und Trauer überwältigte mich, ich konnte mit dem Gedanken nicht umgehen, dass eines oder beide meiner Elternteile sterben könnte.
„Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht, ohne Angst, dass dahinter kein Sommerkommen könnte. Er kommt doch." (Rainer Maria Rilke "Über die Geduld")
Retrospektiv sind mir die Wochen und Monate danach nur noch in vernebelten Bildern in Erinnerung. Ich habe nur noch funktioniert und mich getrieben und verpflichtet gefühlt, für meine Eltern da zu sein und zu unterstützen. Heftige Streitigkeiten zwischen meinen Geschwistern und mir wurden ausgefochten. Beide Geschwister haben sich in ihrer eigenen Ohnmacht, Schmerz und Hilflosigkeit dem Thema gänzlich entzogen und sich auf mich verlassen. Und eigentlich sollte ich Bewerbungen schreiben. Ich war seit Anfang des Jahres arbeitslos gemeldet, hatte aber keine Kraft und Kapazitäten mehr, mich um dieses Thema zu kümmern.
Ich erinnere mich an viele Stunden und Tage purer Verzweiflung. Ich erinnere mich an viele Gespräche über Tod und Trauer. Ich habe mich sehr mit den Themen Demenz, Depression und Trauerphasen auseinandergesetzt. Ich habe mir professionelle Hilfe geholt. Das hat tatsächlich geholfen.
Ein weiterer Lichtblick war mit Anfang April gegeben. Ich hatte einen Job bekommen, der noch dazu mein Herz mit Freude erstrahlt und mir seitdem Kraft und Sinn gibt.
„Man muss Geduld haben. Mit dem Ungelösten im Herzen, und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben, wie verschlossene Stuben, und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprachegeschrieben sind." (Rainer Maria Rilke "Über die Geduld")
Im Jahr 2024 gibt es nur kurze Erholungsphasen, in denen ich wieder Kraft tanken kann. Doch im Juni die nächste Hiobsbotschaft: eine meiner besten und langjährigsten Freundinnen fällt beim Spaziergang zusammen und muss mehrmals reanimiert werden. Erst Monate später erfahre ich, wie knapp sie dem Tod entkommen ist! Beim Gedanken, dass meine wichtigsten Bezugspersonen in meinem Alter sterben könnten, gefriert mir noch immer das Blut in den Adern. Diese tolle Frau ist eine Kämpferin und ist zum Glück Monate später wieder auf den Beinen. WIR WOLLTEN DOCH GEMEINSAM ALT WERDEN! Und wir werden!
Ich mache einen Zeitsprung und komme zum Ende des Jahres 2024. Gleich vorweg, beiden Eltern geht es besser. Ich habe gelernt, damit gut umgehen zu können, dass mein Vater an schlechten Tagen nach meinem Namen fragen muss. An guten Tagen sagt er mir Sätze wie: „Weißt du eigentlich, dass du der Liebling der Familie bist?“ oder „Wenn du da bist, geht es mir immer gut“. Das rührt mich und erfüllt mich mit Freude, denn ich weiß, dass mir die Demenz meines Vaters nicht unsere Herzlichkeit und Verbundenheit nehmen kann.
Das Jahresende war nochmal schwierig. Ich habe versucht, das Jahr für mich nochmal Revue passieren zu lassen. Ich spreche nochmal mit Menschen, die mir am Herzen liegen, über die tragischen und herzzerreißenden Ereignisse, die 2024 passiert sind. Ich komme zu keinem guten Ergebnis. Es gab auch neue Begegnungen in diesem Jahr, Wegbegleiter, von denen ich mich verstanden und aufgefangen fühlte. Ich musste auch Menschen zurück lassen, die mir wichtig waren und sehr am Herzen liegen. Auch das musste ich akzeptieren und Menschen, die über kurz oder lang mein Leben begleitet haben, loslassen.
Und während ich mich in langen und intensiven Gesprächen im Dezember in Endlosschleife sagen höre, dass vieles schwierig und kräftezerrend war, merke ich, dass man mir zuhört. Zum gefühlt hundertsten Mal. Und das ist der Schlüssel: so viele meiner Freunde und Lieblingsmenschen waren für mich da, die ganze Zeit. Sie haben mich getröstet, mich aufgemuntert, mich umarmt, haben mir Tipps und Empfehlungen für Bücher, Podcasts und YouTube-Beiträge gegeben, passend zu den Themen, die mich 2024 beschäftigt haben. Einer dieser wunderbaren Menschen erinnert mich daran, dass ich das genießen soll, „was gerade da ist“.
Ich relativere meine Gedanken zum „Katastrophenjahr 2024“ und erinnere mich an die tollen, großartigen Menschen, die für mich da waren. Die mir so oft mit Geduld und Güte zugehört und Hoffnung geschenkt haben. Ich merke, wie mich dieser neue, positive Gedanke bestärkt und beflügelt und mir ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Ich war nie alleine, auch wenn ich mich oft alleine gefühlt habe. Ich bin gerührt und dankbar, all diese Menschen und Wegbegleiter in meinem Leben zu haben. Ich verspüre neuen Mut und Hoffnung und werde diese Stimmung für das Jahr 2025 mitnehmen.
Der nächste Blog-Beitrag wird wieder lustiger. Versprochen.
„Es handelt sich darum, alles zu leben. Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antworten hinein." (Rainer Maria Rilke "Über die Geduld")
Alles Liebe und Gute für 2025!
Karin
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